Ich weiß ja
nicht, wie es Euch geht, aber mit meinen
knapp 50 Lebensjahren habe ich so allerhand Irre kennen gelernt,
wahrscheinlich auch teilweise deswegen, weil ich in speziellen Läden gearbeitet
habe, in denen man vorwiegend „Freaks“ antrifft – Sammler, Nerds, Außenseiter.
Aber diese meine ich gar nicht, denn die gehörten zu meinem normalen Alltag Sie
waren allesamt auch sehr liebenswert und haben mein Leben für lange Zeit bereichert.
Eines meiner ersten Erlebnisse im Verkauf, lange vor Harry Potter und Twilight
Trilogie, als Rollenspiele dem Großteil der Menschen absolut unbekannt waren:
Ich stand hinter dem Tresen und bediente eine Großmutter, die ihrer
Enkeltochter ein „Mensch ärgere Dich nicht“ kaufte. Neben mir standen mein
Kollege mit einem Kunden, die beide
eingefleischte Rollenspieler waren und lieferten sich ungefähr folgenden
Dialog:
„Was hast Du
in der Bibliothek dann gemacht?“
„Ich
überwältigte den Typen mit der Axt und schlug ihm mit meinem Breitschwert den Arm ab, damit ich
an das Elixier gelangen konnte. Vorher rief ich noch mein Pegasus, damit ich
schnell fliehen konnte, bevor die Horde Orks mich einholen konnte.“
Oma plus
Enkeltochter standen da und wussten eigentlich gar nicht, warum sie hier waren.
Als ich zum
ersten Mal eine Folge „The Big Bang Theorie“ gesehen hatte, verstand ich erst
gar nicht, warum das lustig sein sollte – das war doch das normale Leben! Viele
Jahre dachte ich, es gäbe gar keine anderen Gesprächsthemen als Comichelden,
Inhalte von Serienklassikern und Rollenspielpunktestände.
Aber immer kreuzten
auch Menschen meinen Alltag, die irgendwo noch spezieller als die anderen
waren.
Da war der
eine höchst unterhaltsame Stammkunde, der genau wusste wann die großen Comicverlage
ihre Neuheiten liefern und wie lange wir dafür brauchen, um diese auszupacken
und im Neuheitenregal zu verstauen. Exakt dann, wenn wir das letzte Album aus
dem Karton ins Regal gestellt hatten, stand er in der Tür und strahlte über
beide Ohren, um dann mindestens drei Stunden jeden einzelnen Band vorsichtig
aus dem Regal zu holen, von allen Seiten zu begutachten und das optimale
Exemplar für seine Sammlung vorsichtig auf den Ladentisch zu legen. Er sammelte
viele Serien, war also kein armer Mensch – trotz meiner guten
Mitarbeiterkonditionen hätte ich mir diese Menge an Serien niemals leisten
können. Bitter war halt nur, wenn er an den Tagen kam, an denen der
unsensibelste und schmuddeligste Kollege Dienst hatte und seine so liebevoll
ausgesuchten Superexemplare herzlos in eine Tüte pfefferte… ich habe in meinem
Leben niemals davor und danach so ein blutleeres Gesicht gesehen, wie an jenem
Tag. Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben und nun hatte er
zusätzlich noch einen Faktor mit einzubeziehen beim Einkauf… die
Nichtanwesenheit dieses einen Mitarbeiters.
Dann gab
es diesen Nichtkunden, der jeden Dienstag
um exakt 10:45 Uhr den Laden betrat und eine komplette Runde drehte, durch alle
Räume vorbei an allen Regalen und alle Waren in Augenhöhe antippte. Er lächelte
freundlich beim Reinkommen und grüßte knapp 10 Minuten später beim
Wiederverlassen unserer Räumlichkeiten. Genau jener unsensible Mitarbeiter der
vorangegangenen Geschichte war es, der ihn eines Tages darauf ansprach:
„Entschuldigung, aber was machen sie da eigentlich?“ Der „Antipper“ schrak zusammen, starrte ihn
an und verließ fluchtartig den Laden. Erst Wochen später traute er sich wieder
seine gewohnte Runde bei uns zu drehen – und wir haben ihn nie wieder nach
seinen Absichten gefragt.
Eines Tages
fiel mir eine Frau meines Alters auf (damals Anfang dreißig), die sehr oft im
Laden war und sich für ein Comicgenre interessierte, das auch ich sehr mag. Wir
kamen schnell in ein nettes und langes Gespräch und jedes Mal, wenn sie in unserem
Laden war, wurde auch unser Gespräch länger und es entwickelte sich bald eine
Art Freundschaft – man traf sich auch privat. Und sie und ihre Mutter waren oft
zu Gast bei uns. Ihr Leben war kein
Einfaches und ihre Geschichten rangen mir Mitleid ab, aber irgendwann wurden
ihre Erzählungen immer skurriler, eine Angewohnheit brachte ihre Mutter fast an
den Rand eines Herzinfarktes – sie joggte nachts alleine durch den Wald, und
das im Einzugsbereich Frankfurts. Ich konnte die Ängste der Mutter durchaus nachvollziehen
und stand gedanklich voll und ganz hinter ihr. Die Argumentation die Ängste zu
entkräften ließen allerdings mein Kopfkino auf Hochtouren arbeiten. Völlig
verständnislos schürzte sie die Lippen, zog ihre Augenbrauen hoch und tönte:
„Mama, ich habe mich mit dem Polizeikommissar unterhalten und er hat bestätigt,
er hatte sich mit dem ortsbekannten Vergewaltiger, der immer in unserer Kneipe
ums Eck‘ gastiert, unterhalten, der hat bestätigt dass ich ihm schon
aufgefallen sei, aber die Art wie ich durch die Gegen jogge, wäre ich kein
Opfer.“ Ich schwöre, ich bin ein großer
Kenner ironischer Aussprüche und Gedankengänge: in ihrer Aussage war kein
Fünkchen Satire. Es war zu 100% absolut ehrlich gemeint… da stehen also der
Dorfvergewaltiger gerade mal wieder auf Freigang und der Dorfpolizist innig
vereint in der Dorfkneipe am Tresen bei einem Kurzen und unterhalten sich:
„Sach mal Kalle du kennst doch die A., die immer durch den Wald joggt?“ „Ah,
klar, die Kleine, die hat eine Art zu laufen, die würd einer wie ich nie
anfassen.“ „Na dann – Prost, Kalle!“ Und der Dorfkneipier fragt: „Na ihr zwei,
trinkt ihr noch einen?“ Beide wie aus einem Munde: „Na sischer doch, immer her
mit dem Stoff.“
Der sehr
schmal gebaute dauerhüstelnde Hochwasserhosenträger, der einmal die Woche in den Spieleladen
kam, um sich drei Spiele anzusehen. Komplexe Strategiespiele mit Regelwerken
dick wie Tolstoi Bücher. Er stand sehr lange da, steifbeinig wie ein orthodoxer
Jude vor der Klagemauer nach vorne und hinten wippend und dabei nervös die Finger
der rechten Hand miteinander reibend und
knetend und immer wieder exaltiert hüstelnd. Nach dem Studium der drei Regelwerke kaufte er das erste Spiel das er
sich ansah. Die Woche darauf, dieselbe Prozedur mit zwei der Spiele der letzten
Woche und einem dritten neuen Spiel, diesmal kaufte er das zweite Spiel der
Vorwoche, das nun an die erste Stelle gerückt war… und dies wiederholte sich
Woche für Woche.
Und dann war
da noch der Koch Anfang der 80er Jahre, in einer frequentierten Wiener
Studentenkneipe, der in sich einen verkappten unverstandenen Künstler sah und
auf der Suche nach dem perfekten belegten Brot war. Wenn es nicht seinem
Kunstempfinden entsprach wurde es auf den Boden/Kühlschrank geklatscht und von
neuem erstellt. Der absolute Kassenschlager war eine Portion Linsen mit Knödel und
nach der (gefühlten) zehnten bestellten Portion war sein Maß an Geduld
überreizt und er schrie durch das Lokal: „Wer noch eine Portion Linsen
bestellt, dem hau ich meine Axt ins Kreuz!“
Es gab da da auch eine männliche Aushilfe im Spieleladen, ein 19 jähriger im ersten Jura –
Studiensemester, dem Ausdrücke wie „gar köstlich“ über die Lippen kamen, wie
bei heutigen Jugendlichen„voll krass Alder“. Am kleinen Finger trug er einen
fetten Siegelring und um den Hals täglich ein unflottes Tuch, sauber geknotet und
in das korrekt sitzende Hemd eingefügt. Ein überzeugter Monarchist, der in
Schnappatmung verfiel als der junge Habsburg sich eines Tages in unseren Laden
verirrte und nach einem aktuellen Nintendospiel fragte. Es war das erste Mal in
meinem Leben, als ich dachte es wäre jetzt gut Riechsalz in der Nähe zu haben.
Bemerkenswert
war der eine Kollege, den wir liebevoll „Katastrowski“ nannten:
ausgestattet mit einer Körpergröße, die nicht nennenswert über einer Grube lag,
hatte er das Unglück gepachtet. Beim Fahrradfahren in eine Straßenbahnschiene
zu gelangen und sich dabei fett auf die Fresse legen, gehörte noch mit zu den
harmloseren Dingen. Auch als er bei einer Geschäftsreise nach Wien mit den
Koffern bei einer großen Ampel auf „grün“ wartete und ihm dabei bei helllichtem
Tage beide Koffer gestohlen wurden, rührte ihn kaum noch wirklich.
Unvergessen
allerdings die Sache mit dem Blitz. Eines Gewittertages verirrte sich ein Blitz
in sein offenes Wohnungsfenster und zerstörte alle Elektrogeräte, die sich
darin befanden. Nicht gerade mit Reichtum gesegnet, versuchte er in den
nächsten Wochen auf diversen Flohmärkten alles zu ersetzen, nur um relativ
rasch festzustellen, dass der Blitz sehr wohl zweimal in die selbe Stelle
einschlägt – ich habe keine Ahnung, ob er seine Geräte erneut nachkaufte.
Auch nicht
schlecht war seine Schilderung des unvergesslichen romantischen
Silvesterabends, den er nach langem Singledasein endlich mal wieder zusammen
mit einer Frau verbrachte. Um Mitternacht das obligatorische Sektgläschen,
wahrscheinlich mitten im siebten Himmel, warf er übermütig eine kleine
Feuerwerksrakete aus dem Fenster, die dann mit einem hässlichen Geräusch auf
dem Auto seiner Herzensdame zerbarst und einen nicht gerade kleinen Sachschaden
hinterließ. Es ist anzunehmen, dass dies damals auch das rasche Ende der Liebe
bedeutete.
Aber
endgültig in die Halle der ewigen Pechvögel gelangte er, als er von der
Kriminalpolizei gesucht wurde. Er kam nach Hause und seine Vermieterin
überreichte ihm ein Kärtchen der Polizei, er wäre gesucht worden und solle sich
sofort melden. Das tat er dann auch, wahrscheinlich mit extremem Herzklopfen,
weil er an seine Familie dachte, der vielleicht etwas zugestoßen war. Kaum auf
dem Revier angelangt hatte er auch schon Handschellen an und ab ging’s zum
Verhör. Es dauerte beinahe einen Tag, bis der Irrtum aufgeklärt war: er hatte
das Pech, nicht nur das gleiche Auto wie ein gesuchter Bankräuber zu haben,
sondern ihm auch noch ähnlich zu sehen… zumindest laut Zeugenaussage. Ein handfestes Alibi für diesen Zeitraum
gehabt zu haben, war wohl das erste Mal in seinem Leben, in dem ihm das Glück
hold war.
Keine Ahnung
was er heute macht – irgendwie fehlen mir seine illustren Alltagsgeschichten.
An dieser
Stelle möchte ich auch dem ehemaligen Chef eines großen Verlages ein Denkmal
setzen, der, wann immer es stressige Situationen gab, für Stunden auf die
Toilette verschwand und in Panik ausbrach, weil seine Worddatei für immer weg
war, wenn er sie aus Versehen minimierte und diese in der Taskleiste
verschwand, die für ihn ein unergründliches Phänomen darstellte. Wie gut, dass
man für solche Situationen immer einen Angestellten aus seinem Büro holen
konnte, der das Ding aus der Taskleiste holte.
Mittlerweile
erinnere ich mich auch gerne an jenen Tag, an dem ich still in einer Ecke des
Spieleladens vor mich hin putzte und mein Kollege Daten in den Computer
eintippte. Es war ein sehr ruhiger Tag und keine Kunden vorhanden. Da ging die
Eingangstür auf und ich sah aus meinem „Versteck“ einen etwas verwirrt
dreinblickenden Menschen auf meinen Kollegen zugehen. Er blieb vor ihm stehen,
starrte ihn unverwandt an und reagierte nur verzögert auf seinen Gruß. Er
grüßte nicht zurück, griff stattdessen in seine Jackentasche und holte eine
Pistole heraus. Ihr glaubt gar nicht wie lange Sekunden sein können, lang
vergessen geglaubte Anekdoten seines noch kurzen Lebens ziehen an einem
vorbei, man denkt an Menschen, die man
schon lange nicht mehr gesehen hat und fragt sich, ob man seinem Partner heute Morgen noch
gesagt hat, dass man ihn liebt. So erging es wohl meinem Kollegen, ich
überlegte bloß, wie ich mich aus meiner Ecke heraus in die Freiheit flüchten
könnte, ohne erschossen zu werden. Nach einer schrecklangen Weile meinte der
Freak: „Haben sie für diese Knallpistole Ersatzknaller?“
Wer denkt,
dass einem sowas ja normalerweise gar nicht passieren kann, der irrt – und zwar
gleich zweimal: denn einige Jahre später, anderer Laden – anderes Land, erlebte
ich genau dasselbe noch einmal. Allerdings stand ich damals hinter dem Tresen
und mein Kollege war gerade in der Mittagspause. Da stand grinsend ein mir bis
dato unbekannter Kunde vor mir, kramte in einer Tüte und holte eine „Wumme“
heraus, hielt sie mir entgegen und meinte, weiterhin blöde grinsend, dass er
sich die gerade im Waffenladen um die Ecke geholt hätte.
Ich möchte
nicht weiter ins Detail gehen, was mir in diesem Moment alles durch den Kopf
schoss, immerhin war es keine Kugel, das war schon mal beruhigend.
An dieser
Stelle ein spezieller Gruß an all die speziellen Menschen in meinem Leben, ohne
sie wüsste ich nicht, womit ich dieses Blog füllen sollte und was ich meinen
zukünftigen Enkelkindern vor dem Schlafengehen erzählen werde.