Freitag, 27. Februar 2015

Das Picknick




In einem Land vor unserer Zeit… also lange her… war ich mit einem englischen Ehemann (namens C.) ausgestattet und hatte zum ersten Mal in meinem Leben Schwiegereltern. Das gute an ihnen: sie lebten weit weg. Und so kamen wir auch wunderbar aus, hier und da ein handgeschriebener Brief über aktuelle Neuigkeiten innerhalb der kleinen Familie, ein liebevoll gepacktes Paket mit Geschenken – ein Traumkontakt. Aber dann kam der Tag, da sich die beiden für ein paar Tage bei uns zu einem Besuch ankündigten.
Die erste Panik brach aus: bei C. weil das Verhältnis zu seinen Eltern etwas angespannt war, bei mir weil ich immer schon alles andere als eine tolle Hausfrau war. Nun gut, die Zeit reichte immerhin, um alles blitzeblank zu putzen (zumindest in meinen Augen und mein Töchterchen fühlte sich offensichtlich in dieser Ordnung unwohl, da sie sowas bisher nicht gewohnt war) und einen groben Speiseplan für die Tage zu erstellen.
Die Ankunft der beiden Briten verlief reibungslos und besser als befürchtet. An einem Tag planten wir einen Besuch der nahe gelegenen romantischen Stadt  Heidelberg und als wir am Vorabend den Plan verkündeten, kam ein zaghaftes: „Oh, vielleicht könnten wir da ja ein  nettes Picknick veranstalten.“
Die zweite Panik – C. und ich sahen einander entsetzt an. Ein Picknick! Gott lobe die Einführung der längeren Öffnungszeiten und so eilten wir sofort zum nächst gelegenen Supermarkt und kauften ihn leer.
Am nächsten Morgen schlich ich mich bereits um 5 Uhr in die Küche, um die wichtigsten Nahrungsmittel zu verstauen,  Eier Kaffee und Tee zu kochen und mich selbst so halbwegs auf die Reihe zu bekommen.
Ratlos stand ich vor der (ca.) 30 Liter Kühlbox aus der oben – wo normalerweise der Deckel sitzen sollte – die diversen Lebensmittel heraus ragten.  Gut, so ging das nicht, denn der Deckel sollte darauf und der Kühlakku rein. Also holte ich alle Getränke wieder raus (Cola, Fanta, Mineralwasser, Schweppes etc. pp) und verstaute sie zusammen mit den Chips, den drei Brotsorten, den zwei Thermoskannen mit Kaffee und Tee und dem abgepackten Kuchen in einer großen Tasche (ohne Kühlfunktion). Der Kühlakku passte mit etwas Gewalt wunderbar in die Box und ein Anflug von Erleichterung erfasste mich.
Ich muss nicht erwähnen, dass ich zum Zeitpunkt des gemeinsamen Frühstücks bereits total müde und durchgeschwitzt von der morgendlichen Plackerei war.
Wir pressten uns und die Lebensmittel (geschätzter Wert 300 DM) in das viel zu kleine Auto und fuhren Richtung Heidelberg. C. verfuhr sich ein wenig und nach einer leichten Grundsatzdiskussion zwischen ihm und seinem Vater kühlte sich die Stimmung runter auf null, was sich nicht gerade besserte, als wir uns in der Nähe der Seilbahn einen Parkplatz suchten. Eigentlich ist ja ein Anstieg auf dem idyllischen Fußweg fast schon eine Selbstverständlichkeit… wenn man ohne Kühlbox, Fresstasche und diverser Rucksäcke (ein typischer Deutscher Sommer erfordert immer auch die Mitnahme von zusätzlichen Jacken und Regenschirmen) unterwegs ist. Angetan mit (gefühlten) 80 kg Lebensmittel, kam ein Fußmarsch kaum noch in Frage. 
Nachdem wir in etwa 2000 DM für die Seilbahntickets gelöhnt hatten (unsere Lebensmittelvorräte galten als zwei Personen), quetschten wir uns in eine der Gondeln,  ich glaube wir brachen einer älteren Frau dabei die Rippen und köpften einen kleinen Hund mit unserer Kühlbox… aber Bauernopfer gibt’s halt immer.
Ah, herrlich! Wir standen endlich vor dem atemberaubenden Anblick des Schlosses – konnten uns aber nicht lange unseren Emotionen hingeben, denn: Das Picknick! Die beiden Männer hatten schon mittelschwere Muskelzerrungen vom Schleppen der Kühlbox und der Riemen der Lebensmitteltasche schnitt mir bereits in meine Schulter. Wir ließen uns auf die nächstbeste Bank fallen, auf der eine kleine Japanerin die Sonne genießen wollte, die beim Anblick unserer Truppe flüchtete.  Drei von uns hatten also nun einen Sitzplatz, der Kühlboxdeckel lag auf dem nahestehenden Mülleimer worauf wir nun Brotscheiben schnitten (ja, das extra scharfe riesige Brotmesser hatten wir nicht vergessen) und mit Butter beschmierten – wahlweise auch gerne mit Margarine, wir waren ja für alle Eventualitäten gerüstet – mit Wurst, Ei, Käse und Salat belegten und… eigentlich hatte keiner von uns richtig Appetit, lag doch das Frühstück erst zwei Stunden zurück. Und jene von uns, die auf der Bank keinen Platz mehr fanden wurden ständig von pöbelnden fettleibigen amerikanischen Touristen angerempelt – wahrscheinlich weil sie auf unser Picknick neidisch waren.
Nun wog die Kühlbox nur noch 79,5 kg und wir konnten halbherzig einen Rundgang durch die Parkanlage machen, hätten wir eine Decke mit dabei gehabt, wäre es sicherlich schön gewesen uns auf die Wiese zu platzieren…
Heute lebe ich in der Nähe dieser schönen Stadt und war schon diverse Male oben beim Schloss und immer wenn ich diese wunderschöne Anlage erblicke erfasst mich… ein absolutes Völlegefühl und die Narben der eingeschnittenen Riemen an meiner Schulter fangen leicht an zu schmerzen (aber nur, wenn grad ein Gewitter im Anmarsch ist). Und nie mehr im Leben werde ich den Lachanfall vergessen, den meine Schwiegermutter erst abends – wieder zu Hause angelangt – beim Bettenmachen bekam, als sie unser „gemütliches kleines“ Picknick revue passieren ließ.

Dienstag, 24. Februar 2015

Essenswahnsinn


 Was sind eigentlich Rohr-Ohren?

 Gibt es auch arte-, Phönix- und Kabel1-Brot?

Und wenn da extra "Serviervorschlag" draufgedruckt ist, wie oft haben sich vorher wohl schon Menschen beim Hersteller beschwert, dass in ihrer Wurstpackung kein Salat und keine Heidelbeeren drin waren?

Donnerstag, 19. Februar 2015

Das Leben besteht mitunter nur aus Fragen



... wobei ich nicht jene meine, deren Antwort irgendwas mit 42 zu tun hat. Nein, Fragen des alltäglichen Lebens, die wohl nie so richtig geklärt werden, weil es sich die Mühe nicht lohnt dafür extra ein Lexikon aus dem Regal zu bemühen.

Es gibt diese Kategorie von Fragen, die sich mittlerweile mit Murphys Gesetz beantworten lassen: das obligatorische Butterbrot, das immer mit der Butterseite auf dem Boden aufkommt, wenn es herunter fällt; dass man garantiert jene Kassenschlange im Supermarkt erwischt, an der es Probleme gibt: Rollenwechsel, Kleingeldfiasko, Preisunklarheiten etc. … und während es an ALLEN anderen Kassen flott vorwärts geht, steht man und steht und steht und sieht sein Leben an sich vorbei ziehen.



Unter Murphy’s Law fallen wohl auch Situationen, die jede Mutter kennt – stundenlang schrubbt und kocht sie, schüttelt Kissen auf, sortiert Wäsche in den Schrank und kaum berührt ihr Hintern ENDLICH das Sofakissen, schreien ihre Nachkommen aus vollem Halse: „Maaamaaaa kannst du mir…“ Sind die Kinder aus dem Haus, ist es garantiert die Katze, die allen Aktivitäten vom Ruheplatz folgt und kaum sitzt man, steht sie auf, streckt sich genüsslich, läuft Richtung Tür und miaut – was so viel heißt wie: „Alte, lass mich raus.“

Gesetzmäßigkeit also… na gut, mit Physik hatte ich es ja noch nie so wirklich.

Aber dann wären da die anderen Unklarheiten:

Was (zum Henker noch mal) sind 8 Schätze?
Tausend mal auf diversen Speisekarten – liebevoll mit schlangenartigen Drachen verziert – gelesen, aber noch nie danach gefragt. Sind es die vergessenen Lebensmittel, die sich auch in unseren Kühlschränken zu Hause ab und an finden? Dehydrierte Karotten dünn, biegsam, schwarz wie sie da in der Gemüseschublade liegen und nur deshalb wieder auftauchen, weil man noch verzweifelt nach einer letzten Dose Bier sucht. Ein vergessener, kurz vor der Explosion stehender, Joghurt. Da steht er, in der hintersten Ecke des untersten Fachs, da wo normalerweise nur die Hühneraugen hinsehen können, außen erkennbar mit Erdbeeren drin, innen nicht mehr so ganz eindeutig einer Obstgattung zuzuordnen. Äpfel die sich mühelos mit einem Handgriff entkernen lassen, nämlich indem man sie versucht am Stiel anzuheben. Braune Gurken.. ach nein, doch Bananen: So weich, daß man sie blind erkennt!
Und damit tun sich gleich drei weitere Fragen auf: A) WANN um Himmels Willen hat man das alles eingekauft? B) WARUM hat man diese Dinge gekauft? und C) Wenn man dieses Stillleben lange genug so läßt wie es ist und einmal die Woche ein dickes Steak – Kühlschranktür vorsichtig geöffnet – hinein wirft; kann man diese Lebensformen gewinnbringend an Hagenbeck verkaufen?

Wohin zum Geier verschwindet die andere Hälfte meiner Paar Socken?
Ok, diese Frage hat sich aufgrund meiner Kombinationsfähigkeit fast geklärt – meine Katze frißt sie. Zumindest riecht das so, wenn sie mich morgens mit zärtlichem Köpfchenreiben an meiner Wange weckt. 



Wohin werfen Besatzungsmitglieder der Enterprise die Essensreste und wer wäscht das Geschirr ab?
So ein Replikator ist ja schon was Feines. „Schokoladecreme a la Alderbaran „  oder „Klingonisches Gagh“, alles kein Problem – erscheint in Sekunden, auf passendem Geschirr (das dann zueinander aber leider schon wieder nicht mehr paßt), gegessen... und dann? Hat einer von Euch jemals einen von der Enterprise Geschirr entsorgen gesehen, oder Essensreste in einen Eimer putzen? Nö, ich auch nicht. Steht das verkrustete Geschirr dann tagelang im Privatgemach herum, so wie bei Hempels in der Küche? Bitte, kommt  mir jetzt nicht mit         „ Das wird via Replikator in seine Atome zerlegt“ etc... daher. Es wurde noch nie gezeigt, also glaub ich das auch nicht. Außerdem: werden diese Atome dann für das nächste Essen wiederverwertet? (Schon wieder eine Frage!) Na dann ... Pfui! Ich will kein „Vidabarisches Eisbein“ –Restchen in meinem „Krigilischem Kuchen“ haben!!!
Ich hab ja eine Theorie:
Die Enterprise hat ja auch oft tagelang keine Abenteuer zu bestehen und in diesen Tagen muß derjenige der Transporterdienst machen muss –also  der Mensch der die Leutchens weg – und wieder her beamt – die Zimmer nach schmutzigem Geschirr scannen und dann..... ja was dann? Ins All beamen? In die Großküche? Auf zufällig vorbei treibende Romulanerschiffe?
Verlassen wir lieber das Raumschiff, die vielen Fragen machen mich ja noch krank!

Aber wo wir schon mal beim Fernsehen sind: Kriminalserien! Ausgebildete Scharfschützen (Terroristen wie auch Polizisten) schießen mit hundert Prozentiger Wahrscheinlichkeit daneben, egal wie nah sie sich dem Ziel befinden.
Horrorfilme und Thriller: eine Gruppe von Leuten verirren sich im Wald/in einem verfallenen Gebäude. Was tun sie? Genau: sie teilen sich auf, um Auswege zu suchen. Warum? Jeder, der schon einmal einen Thriller oder Horrorfilm gesehen hat weiß, dass das die schlechteste aller Ideen ist.

Wofür sind Grünflächen vor Wohnungsanlagen eigentlich gedacht?
„Rasen betreten verboten“
„Fußballspielen verboten“
„Grillen, campen, sonnenbaden verboten“
Gucken? Darf man sie ansehen? Was passiert, wenn ich von meinem Küchenfenster aus, in den Rasen spucke?
Ich habe einen großen Verdacht: ich habe bisher noch kein Schild entdeckt auf dem steht „Hunde kacken verboten“. Na toll! Wir haben Hundeklos vor unseren Fenstern!

Warum hat man nach einmaliger Benutzung von Filzstiften garantiert schwarze Finger, selbst wenn man erwachsen ist?

Wenn man ein Paket verklebt, woher kommt dieses eine hartnäckige Haar das so undezent unter dem Paketklebestreifen thront?

Warum sehe ich auf Fotos so derart bescheuert aus, wo ich doch im Badezimmerspiegel so attraktiv umher lächle?

Ich wette, Brockhaus weiß das alles auch nicht!







Dienstag, 17. Februar 2015

Betrachtung





 

In der S-Bahn
 
Still und wie ein ferner Zuschauer, sitze ich in der Ecke beim Fenster. Die Dunkelheit der Tunnel schafft die ideale Voraussetzung, dass ich durch das Glas die Menschen um mich herum beobachten kann.
Mir gegenüber sitzt ein Mann, sein Gesicht sieht älter aus, als er selbst wohl ist. Woher mag er kommen? Aus einem fernen Land aus Asien, das mit "stan" endet? Ich weiß es nicht, sehe nur ein unsichtbares Band zwischen ihm und seinen beiden kleinen Kindern. Der ältere Sohn neben ihm, der seinen Kopf voller Vertrauen an die Schulter seines Vaters legt. Unter all den vielen lauten Menschen, bedeutet  für ihn die starke Schulter seines Vaters eine Insel der Ruhe, Geborgenheit inmitten all der Fremden. Der Vater indes, liebkost zärtlich seinen jüngeren Sohn, der auf seinem Schoß sitzt und im Gegensatz zum großen Bruder sein Umfeld mit neugierigen Babyaugen beobachtet. Die natürliche Liebe zwischen diesen drei Menschen zaubert ein Lächeln auf meine Lippen und ich empfinde viel Wärme und Frieden bei dieser Szene.
 
Auf den Sitzen der gegenüberliegenden Seite, kuschelt ein Pärchen. Er ist ein großer Mann, muskelbepackt, sein Gesicht sieht türkisch aus. Und in seiner groben Hand liegt eine zarte weiße Hand, die einer schmalen kleinen Asiatin gehört. Die beiden fallen in ihrer Unterschiedlichkeit auf, aber auch in ihrer Vertrautheit zueinander. Zwei fremde Seelen, die weit von ihrem Geburtsort zueinander gefunden haben.
Neben mir sitzt eine vom Alter gebeugte Frau. Ihr Haar ist weiß wie frisch gefallener Schnee - welche Farbe hatte es wohl früher. Ihr Gesicht ist faltig und viele Jahre des Lebens spiegeln sich  in ihren Augen. Sie befindet sich in jenem Lebensalter, wo die Gesichter der Männer und der Frauen einander immer mehr ähneln. Lebt sie nur noch in der Erinnerung? Hat sie Menschen mit denen sie reden kann? Ihre Hände umklammern eine abgenutzte Handtasche. Was mag für sie noch wichtig genug sein, um es in einer Handtasche mit sich herum zu tragen? Ein bröseliger Lippenstift, vor langer Zeit gekauft,  hat längst seinen Sinn verloren. Ein Schlüsselbund mit viel zu vielen Schlüsseln daran, deren Nutzen sie gar nicht mehr kennt - darunter ein Garagentorschlüssel, Mann und Auto vor langer Zeit schon von ihr gegangen. Im kargen Portemonnaie sind mehr Mitgliedskärtchen als Münzen. Kleine bunte Plastikkarten mit ihrem Namen darauf, damit sie weiß, dass sie noch lebt. Wann hat sie das letzte Mal ihren Kopf an eine starke Schulter gelehnt, wann das letzte Mal ihre heute faltige Hand in einer großen starken liegen gesehen?
 
Der Zug fährt im Bahnhof ein und ich sehe Dich schon wartend stehen. Nimm mich in Deine Arme, damit ich fühle, dass ich lebe.

Montag, 16. Februar 2015

Sätzegeist und Wörterklau



Hach, wie ist es fein, mit einer Muttersprache gesegnet zu sein, in der schon Goethe seine geistigen Ergüsse wohlwollend zu Papier gebracht hat. Deutsch bietet nicht nur die Gelegenheit mit Menschen kommunizieren zu können, nein man kann die feinsten seiner Hintergedanken in schnörkelige minutiös austarierte Worte kleiden, die mitunter die kleinste Gefühlsnuance in bedeutende Höhen aufschwingen läßt.
Selbst profane Themen, wie das eigene Alter, lassen sich in wohlfeile Worte gepackt viel anmutiger servieren: "Seht, guter Freund, mehr als 30 Lenze zogen wohl schon durch mein Leben.... „ klingt doch allemal gefälliger als die schlichte Aufzählung der Lebensjahre.

Ich liebe meine Sprache, mit all ihren Tücken und Verbiegungen, Fällen und Konstrukten. Abrufbereit stehen die liebevoll gesammelten Worte in meinem Kopf und warten nur darauf  aus meinem Munde zu fließen, wann immer  ich der Gelegenheit dazu gewahr werde.
Allerdings gibt es da „Amnesius“, ein ganz hinterlistiger Geist, der in meinem Gehirn wohnt und sich auf das Klauen von Sätzen und Wörtern spezialisiert hat.

Ich hasse ihn!

„Gute Frau, was darf’s denn sein?“ spricht der Verkäufer hinter dem Obststand.
„Da“, mit dem Finger zeigend und blöde stammelnd, „diese Dings hätte ich gerne.“

„Sag, kennst Du eigentlich das neue Lied von Dingsbums, mir fällt grad der Name nicht ein, das handelt von Dingens... na sag schon... „

„Hey,  hast Du gestern den Film gesehen mit dem … hach wie heißt er nochmal… der der mit der Dingens verheiratet ist, die mit diesem Gesicht. Ja, Du weißt doch, der hat auch bei dem Film mitgespielt, da fällt mir grad der Titel nicht ein.“

GARGL... stammelnd, nach Worte ringend stolpere ich manchmal durchs Leben, besonders dann wenn Schlagfertigkeit lebensnotwendig wird. Kaum aus einem unangenehmen Dialog mit einem noch unangenehmeren Menschen entlassen, so in etwa 5 Minuten später, läßt Amnesius die richtige Sätze wieder frei... unnötig zu erwähnen, daß es 5 Minuten zu spät ist.

Amnesius, die alte Ratte, schläft wann immer ich vor dem Fernseher sitze und Quizsendungen gucke. Ich wette um alles Geld dieser Welt, daß, stünde ich als Kandidat in diesem Studio, er  sämtliche Aufputschmittel, die greifbar wären, fressen würde, damit er ja nicht verpasst, mir in letzter Sekunde alle Worte aus den Gehirnwindungen zu ziehen. Genauso wie er es wohl auch getan hat, als ich damals im Büro meines Chefs stand und die Gelegenheit zu einer Gehaltserhöhungsforderung nie besser war.

Amnesius ist auch garantiert immer vor Ort, wenn ich Leute bei Veranstaltungen treffe. Menschen, deren Gesichter mir vage bekannt vorkommen, die strahlend mit ausgestreckter Hand auf mich zulaufen, und zwar dann, wenn ich mit Freunden beieinander stehe. Alleine wär’s ja unlustig, denn dann grüßt man einfach freudig zurück, schüttelt die ausgestreckte Hand bereitwillig und zermartert sich Tage später immer noch das Gehirn: „Wer, verdammte Kacke nochmal, war das?“ Aber in einer Gesellschaft – als wohlerzogener Mensch ist man genötigt, den soeben dazu gestoßenen brav vorzustellen. Wie rettet man sich dezent aus so einer Situation? „Ihr kennt Euch doch sicher schon? Nein, dann stellt Euch mal vor, ich muss ganz dringend Pipi machen.“ Eigentlich kann man sich hernach doch gleich ganz vom Acker machen und nach Hause gehen.
Amnesius ist eigentlich nur dann witzig, wenn er woanders  zuschlägt, wie tatsächlich mal erlebt: Jemand stürzt mit genau dieser ausgestreckten Hand von der gegenüberliegenden Straßenseite auf mich zu, wo ich bei einer Bushaltestelle warte, ich ergreife die Hand und schüttle sie herzlich, keinen blassen Schimmer habend, wer das nun wieder ist. Aber ich mache einen auf angenehm überrascht und hoffe auf einen raschen Erinnerungsblitz. Und während derjenige losplappert und mich fragt: „Hey, wie geht es Dir, ich hab Dich schon so lange nicht mehr gesehen? Wie geht es Deinem Mann Karl?“, denke ich nur: „Ich war echt oft verheiratet und ein Karl war  nie dabei.“ Und sehe dabei zu, wie meinem Gegenüber das überfreundliche Lächeln im Gesicht verfällt und er dann peinlich betreten murmelt: „Oh, ‚tschuldigung, ich glaube,  ich habe Sie grad verwechselt.“

Ich habe seit Jahrtausenden dieselbe EC-Karten Geheimnummer und dennoch steht ab und zu Amnesius hinter mir beim Bezahlen, dann starre ich das Gerät an und hab’s eilig und garantiert kein Bargeld dabei und im Einkaufswagen verderbliche Meeresfrüchte oder Gefriergut.

Seit einiger Zeit gesellt sich Amnesius‘ Gemahlin zum ihm – Demenzia, auch sie mag ich nicht wirklich leiden. Den heutigen Tag habe ich mit dem Lesen alter Briefe an meine mittlerweile verstorbenen Eltern verbracht und an manchen Stellen schreibe ich über Menschen, die ich „mittlerweile“ sehr mag und gut kenne und mit denen ich gemeinsame Dinge unternommen habe. Das Geschriebene ist gerade mal 18 Jahre her, das Beschriebene klingt aufregend und lustig und ich starre auf die Handschrift, erkenne es als die meine, aber frage mich, ob ich für meine Mutter damals einfach Geschichten erfunden habe, denn ich kann mich weder an „den guten Bekannten“ erinnern,  noch an die erlebte Geschichte.


Irgendwann werde ich wohl morgens im Badezimmer stehen, mir Duschgel auf die Zahnbürste drücken und mit der freundlichen älteren Frau gegenüber plaudern und mich ärgern, dass sie ihre Lippen synchron zum meinem Geplapper bewegt aber keine Antwort gibt. Aber bis dahin habe ich auch vergessen wer Amnesius und Demenzia sind.