Dienstag, 17. Februar 2015

Betrachtung





 

In der S-Bahn
 
Still und wie ein ferner Zuschauer, sitze ich in der Ecke beim Fenster. Die Dunkelheit der Tunnel schafft die ideale Voraussetzung, dass ich durch das Glas die Menschen um mich herum beobachten kann.
Mir gegenüber sitzt ein Mann, sein Gesicht sieht älter aus, als er selbst wohl ist. Woher mag er kommen? Aus einem fernen Land aus Asien, das mit "stan" endet? Ich weiß es nicht, sehe nur ein unsichtbares Band zwischen ihm und seinen beiden kleinen Kindern. Der ältere Sohn neben ihm, der seinen Kopf voller Vertrauen an die Schulter seines Vaters legt. Unter all den vielen lauten Menschen, bedeutet  für ihn die starke Schulter seines Vaters eine Insel der Ruhe, Geborgenheit inmitten all der Fremden. Der Vater indes, liebkost zärtlich seinen jüngeren Sohn, der auf seinem Schoß sitzt und im Gegensatz zum großen Bruder sein Umfeld mit neugierigen Babyaugen beobachtet. Die natürliche Liebe zwischen diesen drei Menschen zaubert ein Lächeln auf meine Lippen und ich empfinde viel Wärme und Frieden bei dieser Szene.
 
Auf den Sitzen der gegenüberliegenden Seite, kuschelt ein Pärchen. Er ist ein großer Mann, muskelbepackt, sein Gesicht sieht türkisch aus. Und in seiner groben Hand liegt eine zarte weiße Hand, die einer schmalen kleinen Asiatin gehört. Die beiden fallen in ihrer Unterschiedlichkeit auf, aber auch in ihrer Vertrautheit zueinander. Zwei fremde Seelen, die weit von ihrem Geburtsort zueinander gefunden haben.
Neben mir sitzt eine vom Alter gebeugte Frau. Ihr Haar ist weiß wie frisch gefallener Schnee - welche Farbe hatte es wohl früher. Ihr Gesicht ist faltig und viele Jahre des Lebens spiegeln sich  in ihren Augen. Sie befindet sich in jenem Lebensalter, wo die Gesichter der Männer und der Frauen einander immer mehr ähneln. Lebt sie nur noch in der Erinnerung? Hat sie Menschen mit denen sie reden kann? Ihre Hände umklammern eine abgenutzte Handtasche. Was mag für sie noch wichtig genug sein, um es in einer Handtasche mit sich herum zu tragen? Ein bröseliger Lippenstift, vor langer Zeit gekauft,  hat längst seinen Sinn verloren. Ein Schlüsselbund mit viel zu vielen Schlüsseln daran, deren Nutzen sie gar nicht mehr kennt - darunter ein Garagentorschlüssel, Mann und Auto vor langer Zeit schon von ihr gegangen. Im kargen Portemonnaie sind mehr Mitgliedskärtchen als Münzen. Kleine bunte Plastikkarten mit ihrem Namen darauf, damit sie weiß, dass sie noch lebt. Wann hat sie das letzte Mal ihren Kopf an eine starke Schulter gelehnt, wann das letzte Mal ihre heute faltige Hand in einer großen starken liegen gesehen?
 
Der Zug fährt im Bahnhof ein und ich sehe Dich schon wartend stehen. Nimm mich in Deine Arme, damit ich fühle, dass ich lebe.

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