Dienstag, 24. März 2015

Und da waren dann noch all die Verrückten in meinem Leben



Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht, aber mit meinen  knapp 50 Lebensjahren habe ich so allerhand Irre kennen gelernt, wahrscheinlich auch teilweise deswegen, weil ich in speziellen Läden gearbeitet habe, in denen man vorwiegend „Freaks“ antrifft – Sammler, Nerds, Außenseiter. Aber diese meine ich gar nicht, denn die gehörten zu meinem normalen Alltag Sie waren allesamt auch sehr liebenswert und haben mein Leben für lange Zeit bereichert. Eines meiner ersten Erlebnisse im Verkauf, lange vor Harry Potter und Twilight Trilogie, als Rollenspiele dem Großteil der Menschen absolut unbekannt waren: Ich stand hinter dem Tresen und bediente eine Großmutter, die ihrer Enkeltochter ein „Mensch ärgere Dich nicht“ kaufte. Neben mir standen mein Kollege  mit einem Kunden, die beide eingefleischte Rollenspieler waren und lieferten sich ungefähr folgenden Dialog:
„Was hast Du in der Bibliothek dann gemacht?“
„Ich überwältigte den Typen mit der Axt und schlug ihm  mit meinem Breitschwert den Arm ab, damit ich an das Elixier gelangen konnte. Vorher rief ich noch mein Pegasus, damit ich schnell fliehen konnte, bevor die Horde Orks mich einholen konnte.“
Oma plus Enkeltochter standen da und wussten eigentlich gar nicht, warum sie hier waren.
Als ich zum ersten Mal eine Folge „The Big Bang Theorie“ gesehen hatte, verstand ich erst gar nicht, warum das lustig sein sollte – das war doch das normale Leben! Viele Jahre dachte ich, es gäbe gar keine anderen Gesprächsthemen als Comichelden, Inhalte von Serienklassikern und Rollenspielpunktestände.

Aber immer kreuzten auch Menschen meinen Alltag, die irgendwo noch spezieller als die anderen waren.

Da war der eine höchst unterhaltsame Stammkunde, der genau wusste wann die großen Comicverlage ihre Neuheiten liefern und wie lange wir dafür brauchen, um diese auszupacken und im Neuheitenregal zu verstauen. Exakt dann, wenn wir das letzte Album aus dem Karton ins Regal gestellt hatten, stand er in der Tür und strahlte über beide Ohren, um dann mindestens drei Stunden jeden einzelnen Band vorsichtig aus dem Regal zu holen, von allen Seiten zu begutachten und das optimale Exemplar für seine Sammlung vorsichtig auf den Ladentisch zu legen. Er sammelte viele Serien, war also kein armer Mensch – trotz meiner guten Mitarbeiterkonditionen hätte ich mir diese Menge an Serien niemals leisten können. Bitter war halt nur, wenn er an den Tagen kam, an denen der unsensibelste und schmuddeligste Kollege Dienst hatte und seine so liebevoll ausgesuchten Superexemplare herzlos in eine Tüte pfefferte… ich habe in meinem Leben niemals davor und danach so ein blutleeres Gesicht gesehen, wie an jenem Tag. Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben und nun hatte er zusätzlich noch einen Faktor mit einzubeziehen beim Einkauf… die Nichtanwesenheit dieses einen Mitarbeiters. 

Dann gab es  diesen Nichtkunden, der jeden Dienstag um exakt 10:45 Uhr den Laden betrat und eine komplette Runde drehte, durch alle Räume vorbei an allen Regalen und alle Waren in Augenhöhe antippte. Er lächelte freundlich beim Reinkommen und grüßte knapp 10 Minuten später beim Wiederverlassen unserer Räumlichkeiten. Genau jener unsensible Mitarbeiter der vorangegangenen Geschichte war es, der ihn eines Tages darauf ansprach: „Entschuldigung, aber was machen sie da eigentlich?“  Der „Antipper“ schrak zusammen, starrte ihn an und verließ fluchtartig den Laden. Erst Wochen später traute er sich wieder seine gewohnte Runde bei uns zu drehen – und wir haben ihn nie wieder nach seinen Absichten gefragt.

Eines Tages fiel mir eine Frau meines Alters auf (damals Anfang dreißig), die sehr oft im Laden war und sich für ein Comicgenre interessierte, das auch ich sehr mag. Wir kamen schnell in ein nettes und langes Gespräch und jedes Mal, wenn sie in unserem Laden war, wurde auch unser Gespräch länger und es entwickelte sich bald eine Art Freundschaft – man traf sich auch privat. Und sie und ihre Mutter waren oft zu Gast bei uns.  Ihr Leben war kein Einfaches und ihre Geschichten rangen mir Mitleid ab, aber irgendwann wurden ihre Erzählungen immer skurriler, eine Angewohnheit brachte ihre Mutter fast an den Rand eines Herzinfarktes – sie joggte nachts alleine durch den Wald, und das im Einzugsbereich Frankfurts. Ich konnte die Ängste der Mutter durchaus nachvollziehen und stand gedanklich voll und ganz hinter ihr. Die Argumentation die Ängste zu entkräften ließen allerdings mein Kopfkino auf Hochtouren arbeiten. Völlig verständnislos schürzte sie die Lippen, zog ihre Augenbrauen hoch und tönte: „Mama, ich habe mich mit dem Polizeikommissar unterhalten und er hat bestätigt, er hatte sich mit dem ortsbekannten Vergewaltiger, der immer in unserer Kneipe ums Eck‘ gastiert, unterhalten, der hat bestätigt dass ich ihm schon aufgefallen sei, aber die Art wie ich durch die Gegen jogge, wäre ich kein Opfer.“  Ich schwöre, ich bin ein großer Kenner ironischer Aussprüche und Gedankengänge: in ihrer Aussage war kein Fünkchen Satire. Es war zu 100% absolut ehrlich gemeint… da stehen also der Dorfvergewaltiger gerade mal wieder auf Freigang und der Dorfpolizist innig vereint in der Dorfkneipe am Tresen bei einem Kurzen und unterhalten sich: „Sach mal Kalle du kennst doch die A., die immer durch den Wald joggt?“ „Ah, klar, die Kleine, die hat eine Art zu laufen, die würd einer wie ich nie anfassen.“ „Na dann – Prost, Kalle!“ Und der Dorfkneipier fragt: „Na ihr zwei, trinkt ihr noch einen?“ Beide wie aus einem Munde: „Na sischer doch, immer her mit dem Stoff.“

Der sehr schmal gebaute dauerhüstelnde Hochwasserhosenträger, der einmal die Woche in den Spieleladen kam, um sich drei Spiele anzusehen. Komplexe Strategiespiele mit Regelwerken dick wie Tolstoi Bücher. Er stand sehr lange da, steifbeinig wie ein orthodoxer Jude vor der Klagemauer nach vorne und hinten wippend und dabei nervös die Finger der rechten Hand miteinander  reibend und knetend und immer wieder exaltiert hüstelnd. Nach dem Studium der drei Regelwerke kaufte er das erste Spiel das er sich ansah. Die Woche darauf, dieselbe Prozedur mit zwei der Spiele der letzten Woche und einem dritten neuen Spiel, diesmal kaufte er das zweite Spiel der Vorwoche, das nun an die erste Stelle gerückt war… und dies wiederholte sich Woche für Woche.

Und dann war da noch der Koch Anfang der 80er Jahre, in einer frequentierten Wiener Studentenkneipe, der in sich einen verkappten unverstandenen Künstler sah und auf der Suche nach dem perfekten belegten Brot war. Wenn es nicht seinem Kunstempfinden entsprach wurde es auf den Boden/Kühlschrank geklatscht und von neuem erstellt. Der absolute Kassenschlager war eine Portion Linsen mit Knödel und nach der (gefühlten) zehnten bestellten Portion war sein Maß an Geduld überreizt und er schrie durch das Lokal: „Wer noch eine Portion Linsen bestellt, dem hau ich meine Axt ins Kreuz!“

Es gab da da auch eine männliche Aushilfe im Spieleladen, ein 19 jähriger im ersten Jura – Studiensemester, dem Ausdrücke wie „gar köstlich“ über die Lippen kamen, wie bei heutigen Jugendlichen„voll krass Alder“. Am kleinen Finger trug er einen fetten Siegelring und um den Hals täglich ein unflottes Tuch, sauber geknotet und in das korrekt sitzende Hemd eingefügt. Ein überzeugter Monarchist, der in Schnappatmung verfiel als der junge Habsburg sich eines Tages in unseren Laden verirrte und nach einem aktuellen Nintendospiel fragte. Es war das erste Mal in meinem Leben, als ich dachte es wäre jetzt gut Riechsalz in der Nähe zu haben.

Bemerkenswert war der eine Kollege, den wir liebevoll „Katastrowski“ nannten: ausgestattet mit einer Körpergröße, die nicht nennenswert über einer Grube lag, hatte er das Unglück gepachtet. Beim Fahrradfahren in eine Straßenbahnschiene zu gelangen und sich dabei fett auf die Fresse legen, gehörte noch mit zu den harmloseren Dingen. Auch als er bei einer Geschäftsreise nach Wien mit den Koffern bei einer großen Ampel auf „grün“ wartete und ihm dabei bei helllichtem Tage beide Koffer gestohlen wurden, rührte ihn kaum noch wirklich.
Unvergessen allerdings die Sache mit dem Blitz. Eines Gewittertages verirrte sich ein Blitz in sein offenes Wohnungsfenster und zerstörte alle Elektrogeräte, die sich darin befanden. Nicht gerade mit Reichtum gesegnet, versuchte er in den nächsten Wochen auf diversen Flohmärkten alles zu ersetzen, nur um relativ rasch festzustellen, dass der Blitz sehr wohl zweimal in die selbe Stelle einschlägt – ich habe keine Ahnung, ob er seine Geräte erneut nachkaufte.
Auch nicht schlecht war seine Schilderung des unvergesslichen romantischen Silvesterabends, den er nach langem Singledasein endlich mal wieder zusammen mit einer Frau verbrachte. Um Mitternacht das obligatorische Sektgläschen, wahrscheinlich mitten im siebten Himmel, warf er übermütig eine kleine Feuerwerksrakete aus dem Fenster, die dann mit einem hässlichen Geräusch auf dem Auto seiner Herzensdame zerbarst und einen nicht gerade kleinen Sachschaden hinterließ. Es ist anzunehmen, dass dies damals auch das rasche Ende der Liebe bedeutete.
Aber endgültig in die Halle der ewigen Pechvögel gelangte er, als er von der Kriminalpolizei gesucht wurde. Er kam nach Hause und seine Vermieterin überreichte ihm ein Kärtchen der Polizei, er wäre gesucht worden und solle sich sofort melden. Das tat er dann auch, wahrscheinlich mit extremem Herzklopfen, weil er an seine Familie dachte, der vielleicht etwas zugestoßen war. Kaum auf dem Revier angelangt hatte er auch schon Handschellen an und ab ging’s zum Verhör. Es dauerte beinahe einen Tag, bis der Irrtum aufgeklärt war: er hatte das Pech, nicht nur das gleiche Auto wie ein gesuchter Bankräuber zu haben, sondern ihm auch noch ähnlich zu sehen… zumindest laut Zeugenaussage.  Ein handfestes Alibi für diesen Zeitraum gehabt zu haben, war wohl das erste Mal in seinem Leben, in dem ihm das Glück hold war.
Keine Ahnung was er heute macht – irgendwie fehlen mir seine illustren Alltagsgeschichten.

An dieser Stelle möchte ich auch dem ehemaligen Chef eines großen Verlages ein Denkmal setzen, der, wann immer es stressige Situationen gab, für Stunden auf die Toilette verschwand und in Panik ausbrach, weil seine Worddatei für immer weg war, wenn er sie aus Versehen minimierte und diese in der Taskleiste verschwand, die für ihn ein unergründliches Phänomen darstellte. Wie gut, dass man für solche Situationen immer einen Angestellten aus seinem Büro holen konnte, der das Ding aus der Taskleiste holte.

Mittlerweile erinnere ich mich auch gerne an jenen Tag, an dem ich still in einer Ecke des Spieleladens vor mich hin putzte und mein Kollege Daten in den Computer eintippte. Es war ein sehr ruhiger Tag und keine Kunden vorhanden. Da ging die Eingangstür auf und ich sah aus meinem „Versteck“ einen etwas verwirrt dreinblickenden Menschen auf meinen Kollegen zugehen. Er blieb vor ihm stehen, starrte ihn unverwandt an und reagierte nur verzögert auf seinen Gruß. Er grüßte nicht zurück, griff stattdessen in seine Jackentasche und holte eine Pistole heraus. Ihr glaubt gar nicht wie lange Sekunden sein können, lang vergessen geglaubte Anekdoten seines noch kurzen Lebens ziehen an einem vorbei,  man denkt an Menschen, die man schon lange nicht mehr gesehen hat und fragt sich,  ob man seinem Partner heute Morgen noch gesagt hat, dass man ihn liebt. So erging es wohl meinem Kollegen, ich überlegte bloß, wie ich mich aus meiner Ecke heraus in die Freiheit flüchten könnte, ohne erschossen zu werden. Nach einer schrecklangen Weile meinte der Freak: „Haben sie für diese Knallpistole Ersatzknaller?“
Wer denkt, dass einem sowas ja normalerweise gar nicht passieren kann, der irrt – und zwar gleich zweimal: denn einige Jahre später, anderer Laden – anderes Land, erlebte ich genau dasselbe noch einmal. Allerdings stand ich damals hinter dem Tresen und mein Kollege war gerade in der Mittagspause. Da stand grinsend ein mir bis dato unbekannter Kunde vor mir, kramte in einer Tüte und holte eine „Wumme“ heraus, hielt sie mir entgegen und meinte, weiterhin blöde grinsend, dass er sich die gerade im Waffenladen um die Ecke geholt hätte.
Ich möchte nicht weiter ins Detail gehen, was mir in diesem Moment alles durch den Kopf schoss, immerhin war es keine Kugel, das war schon mal beruhigend.

An dieser Stelle ein spezieller Gruß an all die speziellen Menschen in meinem Leben, ohne sie wüsste ich nicht, womit ich dieses Blog füllen sollte und was ich meinen zukünftigen Enkelkindern vor dem Schlafengehen erzählen werde.

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